QWIEN: Kunst, Krempel und viel Literatur

„Sehr gemütlich ist es hier leider nicht“, sagt Andreas Brunner gleich zu Beginn des Gesprächs, fast schon ein bisschen entschuldigend. Und in der Tat, ein Archiv oder gar eine Bibliothek, die stellt man sich vielleicht – etwas verwöhnt von den diversen überaus herzeigbaren und mitunter auch gemütlichen Wiener Bibliotheken und Archiven – tatsächlich anders vor, als einen sehr funktional mit Bücherregalen und Büromöbeln ausgestatteten Raum. Aber man ist ja auch nicht in der Großen Neugasse zusammengekommen, um gemütlich Kaffee zu trinken und zu versumpern, sondern um über Bibliothek und Archiv des QWIEN zu sprechen.

Das QWIEN versteht sich als Zentrum für queere Geschichte und beherbergt als solches auch ein umfangreiches Archiv, inklusive Bibliothek. Andreas Brunner ist einer der beiden Leiter des Zentrums und seit dessen Gründung im Jahr 2009 mit an Bord. Zuvor hat er die Buchhandlung Löwenherz in der Berggasse mitbegründet und war anschließend lange Jahre als Literaturagent tätig. „Das war eine durchaus anstrengende Arbeit, weil beide Seiten – also Verlage und Autor*innen – enden wollendes Verständnis für die jeweils andere Seite haben“, blickt Brunner zurück. Und obwohl er Bestseller wie Die Frau des Zeitreisenden von Audrey Niffenegger im deutschsprachigen Raum unter die Leute brachte, ließ er das Agenturgeschäft dann irgendwann Agenturgeschäft sein und gründete mit seinem Bürogemeinschaftskollegen Hannes Sulzenbacher QWIEN. Die inhaltlichen Ursprünge des Zentrums reichen dabei bis zur Ausstellung geheimsache:leben zurück, die im Jahr 2005 erstmals einen Blick auf das homosexuelle Leben im Wien des 20. Jahrhunderts warf. „Wir hatten für die Ausstellung sowieso schon so viel Material angesammelt, also war es irgendwie naheliegend, daraus ein Archiv und eine Bibliothek zur schwul-lesbischen Geschichte Wiens aufzubauen“, sagt Brunner und verweist auf internationale Vorbilder wie das Schwule Museum in Berlin oder das IHLIA in Amsterdam.

Reicher Bestand an Plakaten und grauer Literatur

Über die Jahre sind an die 8.000 Bücher in Bibliothek und Archiv zusammengekommen (davon sind bereits 6.000 Werke katalogisiert und via katalog.qwien.at abrufbar), zusätzlich verfügt QWIEN auch über einen reichen Bestand an Plakaten, grauer Literatur und dem, was Brunner liebevoll „Kunst und Krempel“ nennt. Gemeint sind damit zum Beispiel Buttons, Feuerzeuge und andere bedruckte Dinge, die eines Tages als Werbemittel Verwendung gefunden haben oder in einem anderen inhaltlichen Zusammenhang mit dem homosexuellen Leben in Wien stehen. Ursprünglich waren auch Kulturveranstaltungen Teil des Programms von QWIEN, „das ist sich dann aber irgendwann budgetär nicht mehr ausgegangen“. Geblieben sind bis heute die Stadtführungen zu schwul-lesbischen Themen, die von Brunner – seines Zeichens ausgebildeter Fremdenführer – und zwei Mitarbeitern angeboten werden.

Zusammengetragen wurde der Bestand des QWIEN über die Jahre aus privaten Sammlungen, Schenkungen sowie der Übernahme von privaten oder öffentlichen Archiven. So befindet sich bei QWIEN nicht nur die Bibliothek der HOSI Linz, sondern zum Beispiel auch das Archiv der Aidshilfe Wien. Selten aber doch, können dank einer Förderung auch Ankäufe getätigt werden, „das sind dann immer die schönsten Besuche bei den ehemaligen Kollegen in der Buchhandlung Löwenherz“, frohlockt Brunner.

Arbeit und Vergnügen – im Idealfall

Genutzt werden Archiv und Bibliothek hauptsächlich zu Forschungszwecken. „Man kann sich natürlich auch hierhin setzen und eine lesbische Liebesschmonzette lesen, aber so richtig“ – erraten! – „gemütlich ist es hier ja wirklich nicht“, sagt Brunner und verweist auf eine Leseecke, die es früher mal hier gegeben hat, die dann aber aus Platzgründen rausgeflogen ist. „Wir sind eine Präsenzbibliothek und die meisten Nutzerinnen und Nutzer kommen zum Arbeiten und nicht zum Vergnügen her, im Idealfall verschmilzt bei dem ein oder anderen aber beides miteinander.“

Das Archiv der Liga für Menschenrechte befindet sich ebenso im QWIEN wie auch der …

Neben den Beständen an klassischer Literatur verfügt das QWIEN auch über „sehr viel graue Literatur, die es wirklich nur bei uns gibt. Wir haben eine große Plakatsammlung sowie die zweit- oder drittgrößte Zeitschriftensammlung Europas, mit über 450 Zeitschriftentitel zu queeren Themen.“ Das klingt alles zusammen nicht nur nach einem riesigen Bestand, der schwierig zu überschauen ist, das ist auch tatsächlich so. Zumal die Bestände auf ein Geschäftslokal sowie zwei Wohnungen aufgeteilt sind. Andreas Brunner hat den Überblick trotzdem noch nicht verloren und steuert während eines gemeinsamen Rundgangs zielstrebig von Regal zu Regal, um das ein oder andere besondere Buch zu präsentieren oder über die außergewöhnliche Beschaffungsgeschichte eines anderen Werkes zu plaudern.

Mitdenkende Antiquare und glückliche Zufälle

Da gibt es zum Beispiel eine Bibel aus dem ehemaligen Besitz von Raoul Aslan, Burgtheaterstar zwischen den 1920ern und 1950ern, für einige Jahre auch dessen Direktor. „Ganz Wien hat damals gewusst, dass er schwul ist und eine Beziehung mit seinem Schauspielkollegen Tonio Riedl unterhält, der ihm 1938 diese Bibel geschenkt hat. Kurz vor Aslans Tod hat ihm dieser die Bibel wieder zurückgewidmet“, erzählt Andreas Brunner. Diese Bibel ist auch ein schönes Beispiel, wie Werke ihren Weg zu QWIEN finden, denn ein Antiquar hat die Bibel im Nachlass Tonio Riedls gefunden und sie zu sehr günstigen Konditionen dem Zentrum für queere Geschichte überlassen, „weil er der Meinung war, dass ein solches Werk in eine öffentliche Institution gehört“. Ein anderer Antiquar brachte mal eine Sammlung mit Fotografien einer Transperson vorbei, auf die er ebenfalls in einem Nachlass gestoßen war. „Er hat uns das überlassen, weil er nicht wollte, dass das irgendwo sensationslüstern ausg’stellt wird. “ Auf manch‘ andere wertvolle Stücke stieß Brunner selbst per Zufall, zum Beispiel in einem Antiquariat auf den 1923 im längst verblichenen Gloriette-Verlag erschienen signierten Gedichtband Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase der Nackttänzerin Anita Berber, die offen bisexuell gelebt hat.

… Vorlass von Hermes Phettberg.

Man könnte sich stundenlang mit Andreas Brunner über die homosexuelle Geschichte Wiens und Österreichs austauschen, der Mann erscheint wie ein wandelndes Lexikon. Da erfährt man einiges über „fetznhomophobe“ Avantgardekünstler im Nachkriegsösterreich, die homosexuellen Autor*innen das Leben mehr als schwer gemacht haben. Über österreichische Feuilletons, die an schwuler oder lesbischer Literatur nicht mal anstreifen wollten, während in Deutschland selbst konservative Medien wie die Welt Bücher von zum Beispiel Edmund White besprochen haben. Über homosexuelle ORF-Journalist*innen, die sich in den 80ern und 90ern nicht getraut haben, über die Regenbogenparade zu berichten, weil sie Angst hatten, dass sie sich damit automatisch outen würden. „Viele dieser Dinge haben sich mittlerweile zum Glück geändert“, zieht Andreas Brunner eine verhalten positive Bilanz, insbesondere zum Beispiel in puncto ORF. Und schwule und lesbische Literatur wird mittlerweile auch hierzulande nicht mehr nur in kleinen Nischenverlagen veröffentlicht und erfreut sich auch in den meisten Feuilletons eines angemessenen Interesses.

Gar nicht so ungemütlich

Nach dem gut zweistündigen Gespräch steht man schließlich an einem viel zu kalten Frühlingsabend wieder auf der Straße und fühlt sich umfassend informiert. Denkt darüber nach, wie man all die Infos in einen Text reinquetschen kann, der in puncto Länge nicht völlig auszuufern droht. Und findet, dass es so ungemütlich im QWIEN eigentlich gar nicht war – kann es ja auch gar nicht, schließlich war man zwei Stunden von Büchern umgeben und hat sich prächtig über ebendiese unterhalten.

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